Über meine Vorfahren

von Ernst Pietraß (1905-1988)

Meine Vorfahren waren größtenteils Nachfahren der alten Pruzzen, die im Gebiet von Ostpreußen lebten und im 12. Jahrhundert vom Deutschen Ritterorden unterworfen wurden. Nur der Großvater von Mutters Seite trug den deutschen Namen Schulz und die Großmutter väterlicherseits war eine Salzburgerin mit Namen Hundsdörfer. Die Salzburger verließen um ihres evangelischen Glaubens Willen die Heimat und wurden vom preußischen König in Ostpreußen angesiedelt. Der Name Pietraß kommt her vom altpreußischen "Petrasche".

Mein Vater Richard wurde geboren am 29. April 1869 in Marczinawolla (später Martinshagen), Kreis Lötzen, an einem der schönsten Seen in Masuren gelegen. Seine Eltern besaßen einen 75 ha großen Bauernhof, der schon lange im Familienbesitz war. Er war das dritte Kind und hatte ein fehlerhaftes Bein, das ihn bei der Arbeit nicht hinderte, ihn aber vom Militärdienst befreite. Das kam uns sehr zu statten als wir im ersten Weltkrieg vor den Russen flüchten mußten. Er besuchte nur die Volksschule des Heimatdorfes, hatte aber einen vortrefflichen Lehrer mit Namen Grigo, der auch ein passionierter Skatspieler war. Mit 16 Jahren gaben ihn die Eltern zu einem Rechtsanwalt in Arys, wo er ein Jahr Schreibarbeiten machte und sich eine schöne Handschrift aneignete. Anschließend arbeitete er auf dem elterlichen Hof. Sein älterer Bruder Eduard war auch zu Hause, nachdem er ein paar Jahre das Gymnasium besucht hatte. Da er sehr musikalisch war, gründete er in Marzcinawolla den Jungmännerklub "Juventus", der hauptsächlich als Doppelquartett auftrat.

Im Jahr 1900 übernahm mein Vater den väterlichen Hof, und am 13. Oktober desselben Jahres heiratete er. Durch seinen Vetter August Maibaum aufmerksam gemacht, holte er sich seine Frau aus der 100 km entfernten Mühle Wilknitt, Kreis Heiligenbeil. Mein Vater war 1,76 m groß, starkknochig, mit dunklem Haar und braunen Augen. Er war ein tüchtiger Landwirt und bemüht, seine Wirtschaft zu modernisieren. Im Jahre 1912 wurde das Strohdach einer Scheune durch ein Pfannendach ersetzt.

Im ersten Weltkrieg wurde das Dorf, in dem sich die Russen eingenistet hatten, von der deutschen Artillerie schwer beschossen und zerstört. Der Wiederaufbau, der vom Staat finanziert wurde, war eine große Belastung für die Bauern. Denn die Ziegel mußten von dem 5 km entfernten Bahnhof mit Pferdewagen abgefahren werden. Auf unserem Hof mußten zwei Ställe und das Wohnhaus erneuert werden, was sich bis zum Jahre 1918 hinzog.

Eine Reihe von Jahren hat der Vater das Amt des Gemeindevorstehers und Amtsvorstehers bekleidet. Im Jahre 1938 übergab er den Hof dem jüngsten Sohn Alfred, der im selben Jahr die Bauerntochter Selma Brama aus Martinshagen heiratete. Sie war die Erbin des väterlichen Hofes, den sie mit in die Ehe brachte. Die Eltern bezogen das Altenteil, halfen aber weiterhin mit in der Wirtschaft. Der Vater führte weiterhin sein Tagebuch, wie er es jahrelang getan hatte. In einem Bauern-Taschenkalender machte er für jeden Tag Eintragungen über das Wetter, die ausgeführten Arbeiten und bemerkenswerte Ereignisse in der Familie. Als Alfred 1942 als Sonderführer einberufen wurde, mußte er wieder die Leitung der Wirtschaft übernehmen, wenn ihm auch ein Wirtschafter zur Seite stand.

Auf der Flucht gelangten die Eltern zusammen mit Tante Toni Schulz aus Wilknitt bis nach Pommern, wo sie von den Russen eingeholt und festgehalten wurden. Sie bekamen einen Ausreisetermin für Ende November 1945. Kurz vorher erkrankte die Mutter, und Tante Toni fuhr allein. Am 26.11.1945 starb die Mutter. Der Vater durfte Mitte Dezember ausreisen. Im Zug raubten ihm die Polen seinen Koffer, und im Flüchtlingslager Anklam stahl man ihm sein Bargeld. Dort ist er kurz vor Weihnachten an Entkräftung gestorben, bevor es mir gelang zu ihm zu kommen. Er liegt auf dem Anklamer Friedhof in einem Reihengrab, zusammen mit vielen Leidensgenossen, die in diesem Lager gestorben sind.

Mein Vater hatte zwei Geschwister. Der Bruder Eduard, geb. 1863, war hochbegabt und sehr musikalisch. Er besuchte das Gymnasium in Lötzen. In seinem Heimatdorf rief er ein doppeltes Männerquartett ins Leben. Zwei Jahre war er in Kamerun. Er mußte aber aus gesundheitlichen Gründen zurückkommen und kaufte einen Bauernhof in Dombrowken (Eichendorf), 12 km von Martinshagenn entfernt. Die Schwester Mathilde heiratete den Bauern Matthias Jegelka aus Mysken, Kreis Johannisburg. Sie hatten sechs Kinder.

Meine Mutter Minna Schulz wurde am 13. März 1876 in Wilknitt gewboren. Sie war das siebente von zwölf Kindern. Von Seiten der Mutter, die eine geborene Tolkmitt war, brachte sie einen Anteil altpreußisches Blut mit. Sie hatte große blaue Augen und dunkelblondes Haar, ein gutes Gedächtnis und eine Vorliebe für schöne Gedichte, von denen sie viele auswendig konnte, wie z.B. das Lied von der Glocke. Die ersten Jahre ihrer Ehe wurden getrübt durch die Schikanen ihrer herrschsüchtigen Schwiegermutter. In den letzten Lebensjahren war sie von starkem Ohrensausen geplagt. Sie starb am 26. November 1945 in Bedlin in Pommern, wo sie auch begraben liegt.

Meine Großeltern väterlicherseits hießen Johann Pietraß und Heinriette, geb. Hundsdörfer. Beide wurden im Jahre 1836 geboren. An den Großvater kann ich mich kaum erinnern, da er bereits 1910 starb. Mir steht nur die Großmutter vor Augen, wie sie an seiner Bahre saß und weinte. Er stand im Schatten der Großmutter, einer Bauerntochter aus Upalten, die Manneskräfte hatte und den Hof regierte. Sie war eine Salzburgerin und eine der tragenden Säulen der Familie. Nach dem Tode des Großvaters war sie viel allein, und ich habe ihr oft Gesellschaft geleistet. Ihre Hauptbeschäftigung war Sockenstricken, und das Wollewickeln war meine Aufgabe. Oft spielten wir Kaschlan, ein einfaches Kartenspiel. Sie hatte vier Schwestern, die alle mit masurischen Bauern verheiratet waren (Broandt, Kempa, Maibaum, Demski). Mit 87 Jahren ist sie im April 1924 gestorben.

Die zweite tragende Säule war der Großvater mütterlicherseits, Eduard Schulz, der mit 24 Jahren das väterliche Mühlengrundstück in Wilknitt übernahm. Er besaß ungewöhnliche Körperkräfte und war ein guter Geschäftsmann, der die Mahl- und Schneidemühle zu einer Goldgrube machte. Jede Tochter bekam zu ihrer Hochzeit eine Mitgift von 10 000 Mark. Er konnte keine Gardinen an den Fenstern leiden und nahm ungern den Federhalter in die Hand. Die schriftlichen Arbeiten mußten seine Frau und später die Tochter Hulda erledigen.

Die Großmutter Berta geb. Tolkmitt war von kleiner Statur. Sie war sieben Jahre jünger als der Großvater, starb aber sieben Jahre vor ihm während des ersten Weltkriegs. Der Gram um den Sohn Max, der als Gardeschütze am 12.10.1914 gefallen ist, hat sie dahingerafft. So mußte der zweite Sohn Gustav, der Jura studiert hatte, die Mühle übernehmen. Er heiratete die Kaufmannstochter Toni Drangemeister aus Hannover, und er fand am Kriegsende durch einen Tiefflieger den Tod. Die drei Töchter heißen Kläre, Else und Annita.