Wie ich den zweiten Weltkrieg überstanden habe

von Ernst Pietraß (1905-1988)

Nachstehend möchte ich berichten wie ich den zweiten Weltkrieg überstanden habe. Ich glaube nicht, daß es einen Gott gibt, der die Geschicke der Menschen lenkt, wohl aber ein Schicksal oder eine Vorsehung. Mir war es vorbestimmt, den Krieg zu überleben. Also mußte ich unmusikalisch sein. Denn wäre ich musikalisch gewesen, so wäre ich Landlehrer geworden und gleich zu Beginn des Krieges an die Front gekommen. Auch mein Berufswunsch wurde in andere Bahnen gelenkt. Obwohl ich Klassenbester war, ging ich von der Obersekunda ab und begann auf Vorschlag meines Vaters eine kaufmännische Lehre bei der Landwirtschaftlichen Genossenschaft in Lötzen.
Nach einem Jahr meldete sich Onkel Gustav Schulz aus der Mühle Wilknitt, aus der meine Mutter stammte, mit einem Vorschlag. Da er keinen Sohn hatte, sollte einer von uns drei Brüdern Müller lernen, um später seine Mühle zu übernehmen. Da nur ich dafür in Frage kam, willigte ich ein und erlernte in dreijähriger Lehrzeit das Müllerhandwerk.
Nachdem ich zwei Jahre als Geselle gearbeitet und die Meisterprüfung abgelegt hatte, kaufte mir mein Vater die Mühle in Upalten, die zur Versteigerung gekommen war. Nun hatte ich einen lebenswichtigen Betrieb, und als der Polenkrieg, den ich als Kradmelder mitgemacht hatte, zu Ende war, wurde ich im Dezember 1939 entlassen, um die Mühle wieder in Betrieb zu nehmen.
Fast drei Jahre blieb ich zu Hause, bis ich 1943 im November wieder einberufen wurde, und zwar zu den Landesschützen. Obwohl ich in den Vorkriegsjahren zweimal 6 Wochen eine Grundausbildung mitgemacht hatte, und sogar zum Gefreiter befördert wurde, musste ich nochmal die dreimonatige Ausbildung mitmachen. So war wieder etwas Zeit gewonnen.
Kurz bevor die Marschkompanie aufgestellt wurde, suchte man zwei Mann für einen Schikursus von zwei Wochen. Ich meldete mich, und wir fuhren nach Heilsberg.
Als wir Ende März zurückkamen, war die Kompanie fort, und zwar zur Bewachung des Führerhauptquartiers bei Rastenburg. Anfangs tat es mir leid, doch es war mein Glück. Ich fuhr allein ins Baltikum zu einem Battallion, das zur Partisanenbekämpfung eingesetzt war.
Die dritte Kompanie lag in dem Städtchen Braslow, südlich von Dünaburg in einer Landschaft, die mich an Masuren erinnerte, mit schönen großen Seen. Dort verlebte ich drei angenehme Monate bei leichtem Dienst und gutem Essen, bis am 1. Juli die Front in unsere Nähe kam.
Nun begannen die Rückzugsgefechte, bei denen wir auch eingesetzt wurden. Sehr oft mußten wir die Stellung wechseln. Nur einmal blieben wir vier Wochen am Brückenkopf an der Düna in einer gut ausgebauten Stellung. Es war August und sommerlich warm. Schließlich kamen wir in die Nähe von Riga in ein ausgedehntes Waldgelände. Ich war bei einem schweren Maschinengewehr und trug das Schießgestell auf dem Rücken. Kurz vorher hatte ich meinen Stahlhelm irgendwo liegengelassen und trug eine Feldmütze. Wir sollten eine neue Stellung beziehen und kamen an eine Lichtung, wo der Kompanieführer uns hinlegen ließ bis er die neue Stellung erkundet hatte. Mir gefiel mein Platz nicht. Ich stand auf, ging ein paar Schritte nach der Seite und legte mich wieder hin. Der Russe schoß planlos mit Granatwerfern in den Wald hinein. Nach einem Weilchen spürte ich einen Stich am rechten Auge, und Blut floss über die Backe.
Ich kam ins Lazarett nach Riga. Es stellte sich heraus, dass ein winziger Splitter das Lid durchschlagen hatte und im Augapfel steckengeblieben war. Er hat mich vor der Gefangenschaft gerettet, die ich wohl kaum überlebt hätte. Auf dem Seewege kam ich nach Danzig und ins Lazarett nach Eberswalde.
Das Ende des Krieges erlebte ich an der Westfront. Da ich 40 Jahre alt war, kam ich in einen Regimentstroß und fuhr einen Wagen mit zwei Panjepferden. Da das Regiment dem Ami in die Hände fiel, machte sich der Troß selbständig und fuhr in vier Wochen vom Rhein bis in den Bayerischen Wald. Dort wurde er am 25. April aufgelöst, und ich fand Arbeit in einer kleinen Wassermühle. Nur zwei Tage war ich in einem Gefangenenlager, um meinen Entlassungsschein zu bekommen. Mit ihm hatte ich freie Fahrt auf allen Strecken. Auf dem Dach eines Zuges fuhr ich von Nürnberg nach Plauen. Dort kam ich über die Zonengrenze nach Lichtenstein.