Flucht aus Ostpreußen im Januar 1945
von
Max Kerschling
(geb. 1881 in Kampen, Kreis Lötzen, Ostpreußen)
Fluchtbericht geschrieben am 10. Dezember 1945
im Flüchtlingslager Gunslev (Dänemark)
Infolge des 20.7.1944, dem Attentatsversuch auf Hitler, hatte sich im
ostpreussischen Raum ständig Wehrmacht zusammengezogen, was uns in Verbindung mit den Wehrmachtsberichten Schweres ahnen liess. Jedoch konnten wir das Schicksal, das uns nun getroffen hat, in seiner Schwere nicht vorausahnen. Immer stärker wurde unser Haus mit Soldaten belegt, was uns in unserer Freiheit immer mehr einschränkte. Dann kamen durchziehende Flüchtlinge hinzu, bis sich Mitte Januar 1945 auch für uns die Lage so gestaltete, dass man bang an eine Flucht dachte. Die erste Räumungsansage erhielten wir am 16. Januar 1945.
Die größte Sorge war für mich nun der Hufbeschlag der Pferde. Ich wandte mich deshalb an den Kreisleiter der NSDAP, der mir überhaupt keine Antwort gab. Da war guter Rat teuer. In dieser Not half mir meine Tochter Irmgard. Sie sprach fernmündlich mit dem Stl.-Adj. der Pioniere 311 in Lötzen, der sofort antwortete, dass die betroffenen Pferde am Montag, dem 22.1.45 früh 7 Uhr zum Beschlagen an der Schmiede der Pioniere sein sollten. Es wurden 8 Pferde geschickt und aufs Beste beschlagen. Bei dieser Gelegenheit habe ich mit dem Adjudanten Oberleutnant Darms über Verschiedenes gesprochen. Die Unterhaltung war sehr nett und vertrauensvoll, zumal Herr Obltn Darms aus der Landwirtschaft stammt und Ostpreusse ist.
Schon am Nachmittag desselben Tages hatte sich die Lage sehr verändert. Irmchen kam eiligst auf zwei von den frisch beschlagenen Pferden aus der Kaserne geritten, machte sich mit dem notwendigsten Gepäck fertig und war verzweifelt, weil für den Aufbruch noch so wenig vorbereitet war. Es war doch erst am Sonnabend noch geschlachtet worden und heute, der Hof und das Haus waren voller Flüchtlinge und Soldaten, wurde noch Brot in der Küche gebacken. Sie verabschiedete sich noch in der Mühle und mahnte auch dort zur Eile. Mit dem ersten fertigen Wagen, den Christel führte, fuhr sie mit nach Lötzen in die Kaserne. Vielleicht verabschiedete sie sich damals für immer von uns allen. Sie zog als Gefechtsschreiberin mit dem Pi-Stab mit.
Meine Tochter Elisabeth hatte mich durch ein Zettelchen gebeten, sie mit ihren Kindern nach Preussenburg vorausfahren zu lassen. Auf den Strassen wälzten sich bereits dicht zusammengedrängt die zurückflutenden Heeresmassen und viele Flüchtlingswagen. Christel hat diesen nicht einfachen Auftrag auf einem kleinen Schlitten durchgeführt. Mit solchen kleinen Fahrzeugen hatte man die Möglichkeit zu überholen und schneller vorwärts zu kommen. Der Frost war streng, und der kleine erst sieben Monate alte Ernst musste bald wieder unter Dach kommen, da er an einem Keuchhusten litt. Noch in der gleichen Nacht kam Christel wieder zurück, um am nächsten Morgen wieder mit einer Fuhre vorauszufahren. Das Mädel hatte Mut und Tatkraft.
Die Nacht vom 22. zum 23. Januar verlief voller Aufregungen und fast schlaflos. In der Küche wurde das letzte Brot gebacken. Das Haus war überfüllt mit fremden Menschen, Flüchtlingen, Soldaten, Russen und Polen, die alle Ruhe und Obdach suchten. Es war also nicht mehr leicht, sich im eigenen Besitz zu bewegen. Ich musste in dieser Nacht einem jungen Offizier ein junges Pferd abgeben. Nicht lange danach, wohl um 2 Uhr nachts, kam der mündliche und endgültige Befehl, sich innerhalb 2 Stunden zum Räumen fertig zu machen. In diesen 2 Stunden sollten in Lötzen die Brücken gesprengt werden. ...
Am 23.1. um 9 Uhr vormittags haben wir wohl für immer unsere liebe Heimat und den Ort, wo unserer Ahnen, Grossväter und Väter und auch unsere Wiege gestanden hat, auf nimmer Wiedersehen verloren. Mit sehr schwerem Herzen verliessen wir unser liebes Haus und den Hof und die Scholle. Ich hatte die Hoffnung, bald wieder zurückkommen zu können, um nach dem Vieh zu sehen. Leider ist diese Hoffnung nicht in Erfüllung gegangen, denn die Preussenburger hatten in der gleichen Nacht den Räumungbefehl erhalten.
Der Wagen meiner Tochter Liesbeth schloss sich uns an, sodass wir uns mit 5 langen Wagen in Bewegung setzten. Es war kalt, die Chaussee war sehr glatt und stark durch Fuhrwerke, Militärfahrzeuge und Waffenarten überlastet. Meine Wagen kamem deshalb auseinander. Hinter Lötzen, 7 km von zu Hause, blieben wir stehen bis zur Dunkelheit. Ich hatte 10 Pferde mit, davon 4 tragende und 8 weitere Warmblutstuten. Die beiden jungen wertvollen Stuten, die zur rechten Seite angebunden waren und beim Fahren Schwierigkeiten machten, mussten leider in Preussenburg bei Besitzer Meyer bleiben. Ausserdem kommen noch die beiden Pferde hinzu, die den Wagen meiner Tochter Liesbeth zogen.
Hinter Schönberg bei Lötzen wurde mein Futterwagen von einem Militärfahrzeug gerammt und in den Graben geworfen, so dass er zerbrach und alles liegen bleiben musste. Christel hatte uns auf einem Fahrrad aufgestöbert und uns nach Stürlack auf das Radtke Mühlengrundstück hinbeordert, wo Liesbeth mit ihren vier Kleinen uns erwartete. Sie hatte gerade eine Nacht in Preussenburg zugebracht. Zwei Tage verbrachten wir in Stürlack. Auch Radkes hatten ihren Besitz einem ungewissen Schicksal überlassen und uns die Aufsicht übertragen. Aber auch wir mussten ja weiter! Zuvor bespannten wir uns einen Arbeitsschlitten. Nachdem wir einige Stunden auf der Chaussee nach Rhein warten mussten bis die Hauptchaussee nach Rastenburg wieder freigegeben worden war, fuhren wir bei schönem Winterwetter ohne Unterbrechung bis Gut Queden, wo sich auch viele Menschen stauten. Wir suchten hier Obdach. Die Fuhrwerke blieben draussen, während wir durch den Eigentümer, Herrn Ammon, einen schönen Raum zugewiesen erhielten. In dem Gutshaus trafen wir auch Frau Dennig aus Ruhden und August Schneider aus Kampen mit seiner Familie. Diese zweite Unterkunft war im Vergleich zum weiteren Fluchtverlauf noch sehr angenehm und schön.
Ich möchte noch bemerken, dass unser Wolfshund, der zu Hause zurückgeblieben war, uns in dem dichten Flüchtlingsstrom aufgestöbert hatte, 30 km von zu Hause entfernt auf einer dicht befahrenen Strasse, auf der jede Spur verwischt war. Bei unserem ersten Aufbruch kamen wir nur bis Luisenthal vor Rastenburg und mussten wieder umkehren, weil Rastenburg von Flüchtlingen überfüllt war. Das Wetter war scheusslich. Der gute Wolf ging uns hier wieder verloren.
Am 29.1.45 Abfahrt von Queden über Rastenburg in einen Ort des Kreises Bartenstein, wohl ein Marktflecken. Es war so kalt, dass ich mir die Fingerspitzen und die Zehballen angefroren habe. Die Pferde mussten draussen bleiben, während wir auf dem Fussboden ein enges Nachtunterkommen fanden und auch dadurch, dass wir die kleinen Enkelkinder bei uns hatten. Es waren -28 Grad. Hier traf ich Stahnke (Kampen), Schneider (Kampen) und Walessa (Upalten). Die Schlittenbahn war schlecht geworden, daher bespannten wir uns einen Spazierwagen und liessen den Schlitten stehen. Liesbeths Kinder haben durch die Kälte sehr gelitten und wurden abwechselnd einer nach dem anderen krank. ...
An einem späten Nachmittag schlossen wir uns der Wehrmacht an, da wir sonst Bartenstein nicht hätten passieren können. Gleich hinter Bartenstein mussten wir wieder von der Strasse herunter, weil alles mit Flüchtlingen verstopft war. Es war früh am 31.1., dem Geburtstag meines Sohnes Waldemar. Die Wagen fuhren im Garten auf. Hier traf ich meinen einzigen Bruder Rudolf, 53 Jahre alt, der zuletzt noch als Soldat gezogen war. Er hatte zuletzt in Graywen gelegen. Sie mussten bei ihrem Abzug die Geschütze sprengen und hatten nur die Pferde mit. Wir freuten uns sehr über das unverhoffte Wiedersehen, und mein Bruder hat uns noch sehr gut bewirtet. ... Der Abschied von meinem Bruder war sehr schwer. Wir sahen uns nicht mehr wieder.
Nach schwierigen Überwindungen und einer Zwischenstation auf einem kleinen Hof, wo wir auf Stroh in der Scheune und die Pferde draussen übernachteten, kamen wir eines Abends auf Gut Tolks an, das abseits von der Chausseee liegt. Die Pferde blieben wieder draussen, während wir Patz zum Übernachten in der Wohnung erhielten. Wir konnten auch Essen zubereitenn und Kaffeee kochen. Gerda und Alfred waren gesund, aber Bernhard und der kleine Ernst krankten. Am nächsten Morgen setzten sich Gerda und Alfred nach draussen auf die Hausbank zum Weiterfahren. Es war Mondschein. Ich hatte grosse Mühe, sie wieder zurück in die Stube zu bekommen.
Am 4.2.45 sind wir um 8 Uhr morgens weiter gefahren und landeten auf einem grossen Gut im Kreis Pr. Eylau. Wir fanden im Gutshaus Platz, während die Pferde wieder draussen blieben. Alfred und ich schliefen auf einem Stuhl. Jeder Raum war überfüllt. Nachts regnete es. ... Auf meiner Tochter Liesbeth inniges Bitten beschlossen wir, noch vor Abend von hier fort zu fahren. Liesbeth wollte Wilknitt erreichen. Sie hoffte ihren kranken Kindern endlich eine Ruhepause gönnen zu konnen. Doch das hat sie und wir alle nie erreicht.
Wie verabredet fuhren wir am Abend fort und fuhren die ganze Nacht auf Pr. Eylau zu. Gegen Morgen wurde gehalten. Meine Tochter Frida kam zu mir und sagte, sie wolle erkunden, wann es weiterginge und ein Quartier suchen. Auch wollte sie nach den Strengler Verwandten sehen. Diese hat sie gefunden, nachdem sie uns an diesem Morgen verloren hatte. Wir fuhren weiter nach Pr. Eylau. Der Weg war sehr glatt, weshalb wir langsam und mit grosser Vorsicht fahren mussten. Wir kamen über Pr. Eylau nach Storchnest. Auch hier war alles überfüllt mit sehr viel Soldaten. Aber wir fanden Unterkunft und auch für unsere Pferde ein Dach und genug Futter, sogar noch Klee, was für die armen Tiere eine Wohltat war. Vorher hatten sie nur wenig und schlecht zu fressen gehabt. Die Kinder waren noch immer krank. Ein Militärarzt riet meiner Tochter, den Kindern Ruhe und gute Pflege zu geben. Dann würden sie auch gesund werden. Ein guter Rat in dieser Zeit! Der kleine Ernst litt noch unter dem Keuchhusten, und die anderen Kinder fielen von einem Fieber ins andere. Für die Pferde erhielt ich 2 Zentner Hafer auf die Reise.
Ungefähr am 6.2. sind wir von Storchnest abgefahren. Gleich hinter dem Gut bat mich meine Tochter Liesbeth, ihr ein Fuhrwerk zur Verfügung zu stellen, damit sie mit ihren Kindern nach dem ca. 30 km entfernten Wilknitt vorausfahren könnte. Christel führte diese Aufgabe durch mit einem Kutschwagen und den beiden tragenden Stuten Unrast und Chera. Christel fuhr aufs Geratewohl, denn Gegend und Weg waren ihr völlig unbekannt. Sie landete dann mit Gottes Hilfe abends um 10 Uhr glücklich in Wilknitt. Am nächsten Abend hat sie uns per Rad fast an der gleichen Stelle wiedergefunden, an der sie uns verliess. Wir kamen überhaupt nicht vorwärts und lagen auf freiem Feld fest. Ich war froh als ich sie wieder sah, denn nach kurzer Zeit wurden 50 Wagen, auch unsere, von der Chaussee in den Wald geleitet. Wer weiss, ob sie uns da wiedergefunden hätte. Von Storchnest bis hier sind es 4 km Luftlinie. Für diese Entfernung brauchten wir 48 Stunden, ohne dass wir die Pferde füttern konnten. Die Weiterfahrt führte uns zurück über den Exerzierplatz Stablak in Richtung Canditten. Wir landeten spät abends unter schwierigsten Wegeverhältnissen in Canditten. Die Pferde waren sehr abgespannt und hungrig, wir hatten fast kein Futter mehr. Zwei aufgefundene Strohsäcke wurden entleert und der Inhalt, wenn auch muffig, wurde von den Pferden restlos verzehrt.
Am nächsten Morgen 8 Uhr fuhren wir los in Richtung Lichtenfeld, an Steegen und Blumenstein vorbei. In Lichtenfeld holte ich mir bei der Feldgendarmerie für zwei Wagen die Erlaubnis, zu Schulz nach Wilknitt fahren zu dürfen, um meine Tochter Liesbeth und die lieben Enkelkinder zu finden. Wir alle wollten gern in Wilknitt unterkommen. Leider ging unser Wunsch nicht in Erfüllung. Als ich in Wilknitt eintraf, fand ich dort nur die alten Herrschaften Pietrass aus Martinshagen, meiner Tochter Schwiegereltern. Meine Tochter war am Vormittag des gleichen Tages mit ihrer Schwägerin Selma Pietrass, geb. Brama, mit ihrem Trecker mit Anhängewagen in Richtung Heiligenbeil abgefahren. Die alten Herrschaften wollten nicht weiter flüchten, sondern hier bleiben. Ob ihnen das gelungen ist und ob sie wohl heute noch leben? Es wurden alle Flüchtlinge weiter befohlen, denn es wurde auf diesem Hof für den Divisionsstab Quartier gemacht. Ich wurde ins Haus genötigt und durfte mich gut stärken. Die Pferde wurden tüchtig mit Klee und Heu gefüttert. Ich erfuhr, dass die Fuchsstute Unrast am Morgen verfohlt hatte. Ich liess die beiden Stuten, die Liesbeth und die Kinder hierher gebracht hatten, dort zurück. Ich verabschiedete mich von allen, besonders aber vom alten Herrn Pietrass. Wir haben geweint wie kleine Kinder. Es war wohl der 8.2. um 15 Uhr.
Am 9.2. blieben wir noch in Lichtenfeld. Am Nachmittag fuhr Christel von Blumenstein nach Wilknitt, um uns dort zu suchen. Sie wurde zu uns nach Lichtenfeld geschickt. Sie hatte wieder Glück, uns zu treffen. Mit ihrem Erscheinen strahlte die liebe Sonne vom Himmel so warm und hell. Wir alle freuten uns, dass wir sie wieder unter uns hatten, besonders aber ich, denn sie war mir immer eine grosse Stütze und eine liebe, gute und unvergessliche Tochter gewesen, und sie wird es immer bleiben. Doch die Freude währte nur kurz, denn sie bat mich, ihr zu erlauben, sich von uns zu trennen, um allein schneller zu ihrem Bekannten Butenschön in Bast bei Nortorf/Holstein zu gelangen. Sehr schweren Herzens erlaubte ich es ihr, um mir später Vorwürfe zu ersparen. Denn die Offiziere rieten allen gut aussehenden jungen Mädchen, sich schneller aus dem Staub zu machen. Der Russe war überall um uns herum. Sie nahm ihr Kostüm, das mattgrüne Bleylekleid, ein Paar Schuhe, ihre Reitstiefel und das sonst noch Dringende mit, Verpflegung für ein paar Tage. Mir gab sie zum Andenken einen karierten Wollschal. Sie trennte sich von uns allen und verabschiedete sich. Ich gab ihr auf den Weg das Geleitwort "Befiehl dem Herrn deine Wege, er wird es wohl machen" und "Wer Gott vertraut ist wohl gebaut im Himmel und auf Erden". Ich rief ihr zu "Auf Wiedersehen, meine liebe, gute Tochter Christel!" Sie fuhr auf einem Militärwagen mit nach Blumenstein, nicht weit von Lichtenfeld.
Am 10.2. haben wir Lichtenfeld verlassen und kamen noch am Nachmittag desselben Tages nach Rödersdorf, wohl im Kreis Heiligenbeil. Hier blieben wir bis zum 12.2.. Die Pferde standen draussen wie immer. Es hat auch zeitweise geregnet. Das Essen kochten wir uns draussen auf einem freien Feuer. So ging es fast alle Tage. In Lichtenfeld hatte ich einen Feldpostbrief an meinen einzigen Sohn Waldemar abgeschickt, weil dort die Feldpost war. Sollte er am Leben geblieben sein, so hoffe ich, hat er den Brief erhalten.
Von Rödersdorf fuhren wir nach Birkenau, Kr. Heiligenbeil, und fuhren auf das Anwesen des Besitzers Müller. Wir standen mit den Pferden und Wagen draussen hinter der Scheune.
Am 15.2. spät abends kam der Hofposten und sagte, die Pferde sollten sofort in der Scheune untergebracht werden, denn das Wetter war schlecht geworden. Rauhfutter hatten wir genug, aber der Hafer war knapp geworden. Trotz großer Bemühungen hatten die Herren Kollegen keinen Hafer für uns übrig, obwohl sie berets auch Räumungsbefehle erhalten hatten. Dieses Elend haben sie bald auch am eigenen Leib zu spüren bekommen.
Am 17.2.45 ging es weiter durch Heiligenbeil. Am 18.2. um 1 Uhr mittags ging es ab Leysuhnen übers Haff in drei Reihen. Unsere Fuhrwerke waren in der mittleren Reihe. Die rechte Reihe fuhr gerade aus an Land und dann über die Nehrung. Zwei Reihen fuhren links von uns 63 km längs des Haffs. In der Nacht vom 18.2. zum 19.2. ist Liesbeths Wagen und ein Wagen von mir nicht nachgekommen. Gott sei Dank habe ich das bemerkt. Nach grosser Mühe auf dem zerschossenen Eis habe ich sie gefunden und brachte sie nach vorn zu meinen Fuhrwerken. Beinahe wären sie verloren gegangen. Ich wäre dann mit 2 Wagen und einem Italiener allein geblieben. Auf dem Eis gab es viel Unglück. Fuhrwerke brachen ein, mit Mann, Wagen und Pferden und gingen unter. ... Viele Menschen und Pferde blieben liegen durch Artilleriebeschuss und Fliegereinwirkungen. Wir hatten besonderes Glück. Eine Granater schlug in Liesbeths Wagen ein, dort wo sonst Julian sass. Glücklicherweise war er gerade ausgestiegen. Er büsste 2 Paar feste Schuhe und einen guten Mantel ein. Der Wagen wurde vorn beschädigt. Der Wagen, auf dem Maurice und meine Tochter Margarete fuhren, hatte am Hinterrad einen Blindgänger. Auch hier waren wir durch Gott geschützt, denn er kreiselte auf dem Eis ohne zu explodieren.
Am 19.2. haben wir das Eis verlassen und kamen bei Bodenwinkel an Land. Es war Abend. Wir übernachteten draussen, Menschen und Pferde. Am 20.2. ging es um 8 Uhr weiter durch den Wald nach Vogelsang. Es war herrlich, windstill und die Sonne schien. ... In Reppen bekamen wir etwas zu essen und für die Pferde die erste Futterzuteilung unentgeltlich, 1 Ztr vollwertige Zuckerschnitzel. Wir blieben hier für eine Nacht auf einem Bauernhof. Der Besitzer wollte uns nicht gern aufnehmen. Wir blieben nachts draussen. Den Pferden haben wir Rapsstroh vorgelegt.
Am 21.2. fuhren wir weiter auf der Chaussee nach Passwark. Wir kamen nur sehr langsam vorwärts. Ich traf die Frau Figura aus Gregerswalde, Kreis Lötzen. Sie erzählte mir, dass unsere Tochter Frida am Weg gestanden und aufgepasst hat, ob unser Treck käme, aber leider vergeblich. Das war das erste Lebenszeichen seit unserer Trennung vor Pr.Eylau. Wir kamen spät abends nach Nickelswalde zum Übersetzen über die Weichsel. Wir standen in 6 langen Reihen aufgefahren und wurden erst am 22.2. nachmittags mit unseren Fuhrwerken mittels Fähre auf die andere Seite nach Schiewenhorst übergesetzt. Von dort fuhren wir nach dem 4 km entfernten Bonsack, um uns zum zweiten Mal übersetzen zu lassen. Hier klappte es gleich. Auf dem Weg nach Danzig machten wir Rast in Weslinken im Gasthaus zur guten Hoffnung, wo uns die Eigentümer sehr nett aufnahmen. ...
Am 23.2. ging es weiter über Danzig und Langfuhr nach Oliva, wo wir es der Liebenswürdigkeit einer Dame namens Printel zu verdanken hatten, dass meine Tochter und ich zum ersten Mal seit der Flucht in weiss bezogenen Betten schlafen durften. Für die Pferde war es allerdings auf dem Hof sehr schlecht, zumal das Wetter sich verschlechterte. Hier hat sich wohl Liesbeths Schwarzer den Todesstoss geholt. Er ist wohl an einer doppelseitigen Lungenentzündung in Bürgerwiese gestorben. Es war ein tugendhaftes, treues Tier, dem ich hier für seine Dienste ehrenwert gedenke. Es war Kamerad Pferd im schönsten Sinne.
Meine Tochter Margarete und ich gingen in Bürgerwiese meinen Freund Klimmek besuchen, der uns ein Quartier in Danzig Bürgerwiese 13 besorgte, das wir am 27.2. bezogen. Es war alles sehr primitiv, alte Brettergebäude. In der Scheune, in der 6 Pferde untergebracht waren, war es recht luftig, weil man durch die nicht dicht zusammengefügten Bretter den blauen Himmel sehen konnte. Auch hier konnten die Pferde sich nicht legen, aber es war eine Bleibe. Zwei Pferde brachte ich besser unter bei Demski in Bürgerwiese Nr. 4. Es waren Irmchens und Christels Reitpferde. Meine Tochter Margarete musste noch immer draussen im Wagen schlafen, sonst wäre uns von den letzten Habseligkeiten unserer lieben Heimat wohl kaum etwas geblieben. Mein Freund Klimmek stellte mir ein Bett, einen Tisch und zwei Stühle zur Verfügung. Ausserdem stopften wir noch einen Strohsack, und so konnten meine Frau und ich hausen. Mein guter Freund Klimmek half mir, Eichenrinden aus einem Sägewerk zu besorgen, die wir sehr gut zum Heizen und Kochen gebrauchen konnten. An das Zimmer grenzte der Pferdestall und nachts tanzten die Ratten. Trotz allem aber war es eine Stätte, wo das Haupt zur Ruhe kam. Ich hatte viel Zerstreuung durch Klimmek.
Ich hatte auch oft in die Stadt zu gehen, um Pferdefutter zu besorgen, was sehr mühsam war. Ich holte mir die Genehmigung, nach Neuteich zu fahren um Futter zu besorgen. Nach Stegen bin ich einmal umsonst gefahren, doch ein Sprichwort sagt "Wem die Kuh gehört, der muss sie an den Schwanz fassen". ...
Nach Neuteich fuhr ich mit zwei Wagen, Hin- und Rückweg 120 km. Wegen des schwachen Futterzustandes der Pferde konnte ich nur 3 DZtr Gemenge, 0,75 DZtr Pferdebohnen, 1 DZtr Speisekartoffeln, 0,5 DZtr Speisemöhren und 30 Ballen Futterstroh aufladen. Es war inzwischen Schnee gefallen, der den Weg noch erschwerte. Mein zweiter Weg mit 46 km war umsonst. Wir konnten uns in Danzig nicht mehr länger aufhalten, weil die Fliegerangriffe und der Artilleriebeschuss zunahmen. Es war dort sehr gefährlich, überall schlugen die Bomben ein. Es gab keine Luftschutzkeller, nur sehr primitive Bunker, in denen nicht viele Menschen Platz hatten.
Nachdem ich mich von Klimmek und Filipp verabschiedet hatte, fuhren wir am 25.3., einem Sonntag, am Nachmittag von Bürgerwiesen ab und wurden durch einen Fliegerangriff noch an Danzigs Toren festgehalten. Aber dann fuhren wir auf eigene Gefahr aus dem stark brennenden Danzig. Als wir in Danzig einzogen, war es eine Stadt, die wohl kaum eine Bombe gesehen hatte und so einen märchenhaften Eindruck trotz der Kriegsverhältnisse machte. Der Abschied: Ein einziges grosses Feuermeer und rennernde Menschen zu Fuss mit wenig Habe. Alle suchten nur das Leben zu retten. Es war schwer, sich wegen des Militärs auf der Strasse zu halten, man wurde oft runtergeworfen. ... Wir trafen noch unseren Mietwirt aus Bürgerwiesen, Herrn Drewetzke, der sich mit seinen Verwandten einen Tag nach uns auf die Flucht gemacht hatte, weil in das Haus eine Granate eingeschlagen war. Also hatten wir noch den letzten richtigen Termin erwischt.
Vor der Brücke fanden sich dann unsere Wagen noch zu einer kurzen Rast zusammen. Wir waren vorher alle voneinander getrennt worden, weil der Flüchtlingsstrom so stark war. Der Upalter Wagen war bis zum Abend an einer gefährlichen Stelle festgehalten worden und wurde mit Hilfe von Militärpferden herausgeholt. Wir machten uns nun nach langer Zeit ein warmes Essen, Salzkartoffeln und Hühner. Wir luden auch noch Soldaten dazu ein. In der Nacht regelte es dann meine Tochter, dass wir die Brücke nach Bonsack passieren konnten, die eigentlich für Zivil gesperrt war. In Bonsack mussten wir dann wieder von der Srasse herunter in den Wald. Auch dort liessen wir es uns mit den mitgebrachten Lebensmitteln gut gehen. Gedenken möchte ich hier der beiden Franzosen Maurice und Julian, die bei der Essenzubereitung immer emsig waren. Auch die Pferde kamen nicht zu kurz, denn wir hatten ja Futter mitgenommen. ...
Um weiter zu kommen, mussten wir unsere Fuhrwerke mit Frauen und Kindern beladen und sind dann im Schneckentempo am 31.3. in Schiewenhorst gelandet, wo wir fest liegen blieben. Wir sollten alles stehen lassen und Handgepäck fertig machen, um eingeschifft zu werden. Wir wählten uns den Standplatz an einer sehr ärmlichen Holzhütte, in der die Witwe Martha Wroblewswki wohnte und blieben hier bis zum 13.4. Wir lebten hier schlecht und recht so gut wie es möglich war. Wir kochten uns selbst draussen. Für die Pferde gab es auch noch genügend Futter. Von einer Soldateneinheit erhielten wir noch etwas Rindfleisch, was uns sehr wohl tat.
Die feindlichen Flugzeuge besuchten uns Tag und Nacht. Es entstand mancher Schaden in unserem nächsten Umkreis. Doch auch hier blieben wir verschont. Nun kam die endgültige Aufforderung, Wagen und Pferde abzugeben und sich mit Handgepäck zum Schiff zu begeben. Am 13.4. kamen wir dieser Aufforderung nach. Unsere beiden schönen Stuten, auf denen Irmchen und Christel so gern geritten sind, suchten wir vor einem ungewissen Schicksal zu bewahren, indem wir sie Soldaten mitgaben, die uns gut erschienen, ausgestattet mit einer Futteraussteuer. Der Abschied von diesen Pferden war der eigentliche Abschied von der Heimat. ... Ich sehe noch die stolz erhobenen Köpfe dieser beiden schönen Tiere den wirren Flüchtlingsstrom überragen. Ob sie heute noch leben?
Der Upalter Wagen diente uns am Wasser noch als letzte Heimatstätte. Wir haben darin noch die beiden letzten Nächte übernachtet. Da haben wir zum letzten Mal noch gut gegessen. Unsere Franzosen mussten uns am 14.4. verlassen und wurden einem Sammellager zugewiesen. Sie hatten sich einen schönen Handwagen besorgt und bekamen von uns auch noch reichlich Lebensmittel mit. Sie verabschiedeten sich von uns und die besten Wünsche wurden gegenseitig ausgetauscht. Für den Italiener Francesco Volonte hatte ich die Erlaubnis, ihn auf das Schiff mitzunehmen. So verliessen wir am 15.4. Schiewenhorst und landeten im Kriegshafen von Hela. Dort blieben wir bis zum 21.4. und schifften uns dann auf die Lappland ein, die uns nach Kopenhagen in Dänemark brachte. Von dort ging es mit dem Zug zuerst nach Stubbeköbing, wo wir dem Flüchtlingslager im Versammlungshaus zu Gunslev zugeteilt wurden, in dem wir uns noch heute befinden.
Wir haben keine Möglichkeit, unsere Angehörigen zu suchen. Sollten diese sich in Dänemark befinden, gibt es bis heute noch keine ernsthafte Suchaktion. Es ist alles ziemlich trostlos. Auch wissen wir nicht, wo unser Sohn Waldemar ist und ob er noch lebt. Wir sind hier zum Müssiggang verurteilt. Auch die Erfahrungen mit den Menschen sind nicht erfreulich. Es gibt hier wenig angenehme Menschen. Auch an die Szenen auf dem Schiff, auf dem 7000 Menschen waren, erinnere ich mich nicht gern. Die Dänen helfen uns wie es in ihrer Kraft steht und bemühen sich, gerecht und gut zu uns zu sein. Wir sind ihnen dankbar, denn die Deutschen sind unberechenbar geworden. Leider ist es so. Ich schliesse meinen Bericht mit "Gott, der allmächtige Vater im Himmel wird uns helfen".
Gunslev, 10. Dezember 1945