Flucht aus Ostpreußen im Januar 1945
von Helene Pietrass (1904-2002)
(geb. 1904 in Dombrowken, Kreis Lötzen, Ostpreußen)

Fluchtbericht, geschrieben am 6. Oktober 1946 in Leer, Ostfriesland

Wir hatten am 20.1.45 den Befehl zur Räumung bekommen. Es sollte am Montag 22.1. geschlossen von Eichendorf (Dombrowken) losgehen. Wir versuchten zwei Tage lang auf die Chaussee zu kommen, es war nicht möglich. Am Mittwoch 24.1. beschlossen wir, mit dem Treck aus dem Kreis Lyck mitzufahren, der die Nacht bei uns einquartiert war. Es war ein Dreschkommando, 17 Wagen, alles Ausländer: Franzosen, Polen und ein russisches Mädchen als Köchin, nur drei deutsche Männer.
Um 8 Uhr verließen wir mit unseren Leuten schweren Herzens unseren Hof. Dass es für immer sein sollte, haben wir alle nicht geglaubt. Schon in Schmidtsdorf (Schimonken) hatten die Soldaten den Befehl, die Brücke zu sprengen. Wir kaum 50 Meter davor, der Treck vollgepfropft. In drei und vier Reihen fuhren die Wagen im Schneckentempo. Es wurde so viel wie möglich vom Treck durchgelassen. Jenseits des Flusses wurden Kanonen aufgefahren.

Am Abend waren wir in Rhein. ... Wir kamen verhältnismäßig gut durch und machten in Stürlack kurz Rast. Es war Nacht, wir hatten unsere Fuhrwerke verloren, standen um 2 Uhr nachts wieder auf. Die Chausseee war ziemlich leer, wir kamen gut voran und waren um 10 Uhr in Rastenburg. Richard hatte den Sattel am Jagdwagen befestigt und entschloss sich zurückzureiten, um unsere Leute zu suchen. Er traf Robert Kempa, der zeigte ihm die Richtung, wo er die Wagen auf einem Gut gesehen hatte. Am Abend war Richard mit den Wagen der Italiener wieder da. Wir waren froh. Friedel holte noch zwei Betten vom Wagen. Dabei bemerkte sie, dass die Wagen schon tüchtig durchwühlt waren.

Um 2 Uhr nachts schlugen die ersten Fernkampfgeschosse in das nahe gelegene Proviantamt ein. Es brannte schon lichterloh als wir die Artilleriekaserne verlassen haben. Wir waren auf der Chaussee Richtung Bartenstein, schneidender Wind und Schneegestöber. Wir fuhren in der Nacht über 30 km. Als es hell wurde, erzittert das Sperrholzdach unseres Wagens von den Detonationen, unsere Gesichter waren rußgeschwärzt. Um 6 Uhr passierten wir Bartenstein. Wir fuhren weiter bis Gut Lenden. Es war bitterkalt. Kurz vor Bartenstein blieben die Italiener wieder zurück. ...
Wir mussten mit unserem Jagdwagen ohne Proviant für uns und unsere armen Pferdchen weiter ziehen. Wir wussten genau, die Kerle von Italienern haben sich mit Absicht aus dem Staub gemacht. Sie konnten ja wie die Fürsten leben: zwei 20-Ltr Kannen voll Gänseschmalz, 4 geräucherte Schweineschinken, ca. 100 Weckgläser, Brot, Zucker, Honig, Butter, Mehl und vieles mehr. Wir nur mit einer kleinen eisernen Ration und einem Löffel in der Tasche. Es war eine Katastrophe, einfache Pellkartoffeln zu kochen. Wir nahmen sie für unterwegs mit und aßen sie mit der Pelle, erfroren ließen sie sich nicht schälen.

Wir kamen gut über das Haff, der Tag war neblig. Tags zuvor wurde Braunsberg bombardiert, nachdem wir unser Quartier verlassen hatten. Eng geduckt lagen wir an einem kleinen Wäldchen und sahen, wie die Leute über die Wiese zu dem Wäldchen rannten. Über Braunsberg Rauch und Staubwolken. Wir kamen in der Nacht nur 3 km weit bis zum Dorf Passarge. Von da ging es übers Haff, am Abend in Neukrug. Wir mussten uns ganz still verhalten, kein Feuer machen, wegen feindlicher Stoßtrupps. Am nächsten Tag in Kahlberg haben wir das erste Brot und etwas Käse beim Hauptverbandsplatz bekommen. Unser Wagen kann uns kaum fassen, denn aus 5 Insassen waren inzwischen 9 geworden. Ausserdem mussten wir bis Kahlberg noch Verwundete mitnehmen. 12 km vor Pommerns Grenze mussten wir schweren Herzens unsere Pferdchen aufgeben. Durch die Strapazen und das schlechte Wetter erkrankten die braven Tiere. Wir wollten sie nicht sterben sehen. Es waren nette Leute, sie hatten selbst nicht viel, aber sie erbarmten sich unserer Pferde. Sie bekamen einen warmen Stall und gutes Heu. Auch uns ging es gesundheitlich nicht mehr gut. Unsere Füße und mein Gesicht waren geschwollen.

Bis Lauenburg in Pommern kamen wir weiter mit einem vollgepfropften Zug. Dort wurden wir zum ersten Mal durch die NSV satt gemacht. Abends ging es weiter mit einem Flüchtlingstranport bis Schlawe in Pommern. Dort zwei Tage Aufenthalt, durch die Wehrmacht gut verpflegt. ... Lastkraftwagen der Wehrmacht nahmen uns mit nach Neubrandenburg in Mecklenburg. Von dort fuhren wir mit einem Omnibus nach Plath (Dorf in Mecklenburg). In Plath waren Hannelores Pensionseltern im Pfarrhaus untergebracht. Wir wollten wenigstens ein paar Tage zur Ruhe kommen, uns tüchtig waschen und in einem richtigen Bett schlafen. Gottlob ging es uns gesundheitlich wieder besser, auch Richard hatte sich wieder erholt.

Vom 21.2 bis 15.3. blieben wir in Plath. Als der Kanonendonner um Stettin uns nachts nicht mehr schlafen ließ, beschlossen wir weiter zu pilgern. Auf der Chaussee nach Neubrandenburg bildeten wir Fünf eine Kette als wir einen LKW kommen sahen. Wir hatten Glück. Der Wagen fuhr bis zur Küste. Wir blieben die Nacht in Brühl. Am nächsten Morgen nahm uns ein Wehrmachtswagen bis nach Schwerin mit. Dort kamen wir in ein Auffanglager. Es war ganz sauber. Wir bekamen satt zu essen, hatten ausserdem noch unsere Lebensmittelkarten und konnten uns noch etwas dazu kaufen. Nach drei Tagen waren genügend Flüchtlinge zusammen gekommen, der Transport konnte abgehen. Es sollte nach Dänemark gehen, aber im letzten Moment hiess es, es geht nach dem Gau Weser-Ems. Alle vorherigen Tranporte aus dem Lager waren nach Dänemark gegangen.

Am 21.3.kamen wir hier in Leer an, als letzter Transport vor dem Beschuss. Leer war schon überfüllt. Wir erhielten kleine Schrägkammern bei jungverheirateten Frauen, ich bei einer jungen Kriegerwitwe mit Kind. Wir wohnen alle Marienstrasse 20 bis 22, Friedel mit Hanni im nächsten Hausgiebel, Richard wohnt gegenüber mit unserem kleinen Friedrich Schmidt. Er hat das größte Zimmer, aber einen komischen Kauz als Quartierwirt. Friedrich hat inzwischen seinen älteren Bruder in Schleswig-Holstein gefunden und ist zu ihm übergesiedelt.

Karl wurde am 10.4.45 in Königsberg gefangen genommen. ... Er kam nach Georgensburg. Sie waren da in den Ställen des Gestüts untergebracht. Die Behandlung der Soldaten war sehr schlecht. Karl war eine Zeit als Dolmetscher eingesetzt. ... Am 19.8.45 wurde er entlassen. Er hatte sich bei einer Untersuchung unter die 50-Jährigen gestellt, die alle entlassen wurden. ... Am 15.10.45 ist er hier gelandet. Er arbeitet jetzt auf dem nahe gelegenen Meierhof des Grafen von Wedel als Landarbeiter. Wir bekommen von dort täglich 2 Liter Vollmilch und Magermilch zu Quark, auch haben wir ein Stück Gartenland. Friedel hat viel herausgeholt. Hanni geht auch hier auf die Oberschule. Im kommenden Früjahr soll sie eingesegnet werden. Richard beschäftigt sich überall als Gelegenheitsarbeiter, meistens hilft er einem Schreiner. Er bekommt auch Arbeitslosenunterstützung. Wir drei, Friedel, Hanni und ich schlafen in meinem kleinen Schrägstübchen. Es ist so eng, dass ich warten muss, bis die beiden in der Falle sind.

Leer, 6. Oktober 1946

Anmerkungen
Helene Pietrass ging im Januar 1945 mit Bruder Richard und Schwester Frieda (Friedel) mit Tochter Hannelore (Hanni) auf die Flucht. Sie mussten ihren Bauernhof in Eichendorf (Dombrowken) verlassen, den sie von Eduard Pietrass (1863-1939) geerbt hatten. Friedas Ehemann Karl Kempa war Soldat an der Ostfront.
Der obige Fluchtbericht von Helene P. ist hier etwas verkürzt wiedergegeben und konzentriert sich auf den Ablauf der Flucht. Interessant ist der Vergleich mit den anderen Fluchtberichten. Alle flüchteten über das Haff, aber sie kamen dann auf verschiedenen Wegen weiter voran und landeten an verschiedenen Orten (Leer in Ostfriesland, Pinneberg bei Hamburg, Stolpmünde in Pommern, Gunslev in Dänemark).

Der Vormarsch der Roten Armee im Januar 1945 in Ostpreussen ist in dem Wikipedia-Artikel "Weichsel-Oder-Operation" dargestellt.